Ich halte meinen Brief in den Händen, den ich Bernd zu Weihnachten geschrieben hatte: Er war zurückgekommen mit dem Vermerk „verstorben“.
Ungläubig starre ich auf die Schrift: Das kann nicht sein, Bernd hätte am 7. Februar seinen 60. Geburtstag gehabt. Er kann doch noch nicht tot sein.
Ich werde es nie erfahren, wann und warum Bernd über die Regenbogenbrücke ging. Wir sind nicht verwandt und waren eigentlich auch nicht befreundet. Und doch hat er für immer einen Platz in meinem Herzen.
Erinnerungen steigen auf: Es ist das Jahr 1992 und ich mache im Rahmen meiner Ausbildung zur Ergotherapeutin gerade ein Praktikum in einem Alten- und Pflegeheim. Ich fühle mich dort nicht sehr wohl. Die Therapieräume sind im Keller und erhalten so gut wie kein Tageslicht. Oft finden hier Gruppentherapien statt: Für viele alte Menschen damals die einzige Abwechslung in ihrem Alltag. Einige sind depressiv und viele fühlen sich sehr einsam. Sie kommen sich abgeschoben vor, nicht mehr dazugehörig. Außer den Therapeuten hat kaum jemand Zeit für sie. Keine einfache Aufgabe, in diesen Kellerräumen etwas Glanz in den Alltag dieser Menschen zu bringen.
Unter all den Alten fällt ein junger Mann im Rollstuhl auf: Bernd.
Von Geburt an spastisch gelähmt, ist er in fast allen Bereichen auf Hilfe angewiesen. Durch die Spastik ist auch das Sprechen erschwert und ich kann ihn oft nicht verstehen. Seine Mutter musste alleine für mehrere Kinder aufkommen und war daher mit seiner Pflege überfordert. So lebte Bernd nun schon seit einigen Jahren im Altersheim, als einziger junger Bewohner. Nun könnte man annehmen, das würde ihn bedrücken, doch das Gegenteil war der Fall: Bernd war eine Frohnatur und er lachte sehr gerne. Irgendwie schaffte er es trotz seiner ausgeprägten Spastik den Rollstuhl alleine anzutreiben und wenn er mit dem Aufzug in den Keller fuhr, konnten wir ihn lachend den Gang entlang fahren hören. Das Essen musste ihm eingegeben werden und trinken war aufgrund seiner ataktischen (unwillkürlich zuckenden) Bewegungen nur mit einer Schnabeltasse möglich. Und doch genoss er es, wenn jemand dies für ihn tat. Bernd war im ganzen Haus bekannt, weil er sich nicht scheute, Kontakt zu den anderen zu suchen: Dadurch fand er auch immer jemanden, der für ihn zum Beispiel Weihnachts- und Geburtstagskarten an seine Angehörigen schrieb. Und er versuchte sich im Rahmen seiner Möglichkeiten nützlich zu machen: So erledigte er kleine Botengänge mit seinem Rollstuhl oder besorgte für uns Essensmarken.
Gerne machte er auch ein Schwätzchen mit Bewohnern oder Personal und heiterte alle mit seinem Lachen auf.
Er hat das praktiziert, was vielen alten Leuten im Heim fehlte: Teilhabe.
Bernd war auch ein guter Zuhörer: Einmal fragte er mich, warum ich traurig sei. Da erzählte ich ihm von unseren beiden kleinen Kindern, bei denen ich gerne wäre, doch müsste ich ja stattdessen arbeiten, um Geld für Miete und Lebensunterhalt zu verdienen. Ganz ernst schaute er mich an und dann sagte er: „Ich würde gerne arbeiten.“
Peng – das hatte gesessen. Lange dachte ich über seine Worte nach. Mir wurde klar, dass ich in Problemen und nicht in Lösungen dachte.
Einmal hat mein Mann mich mit den Kindern abgeholt. Bernd überraschte sie mit Schokolade, die er sich von einer der Schwestern besorgen ließ:
Er fand immer einen Weg, um anderen eine Freude zu bereiten.
Nach acht Wochen war mein Praktikum im Altersheim beendet und ich versprach Bernd, mich hin und wieder bei ihm zu melden. Kurze Zeit später zogen wir nach Bayern – ca. 460 km entfernt.
So blieben die Kontakte auf den Austausch von Karten begrenzt und jedes Jahr zu meinem Geburtstag ließ mich Bernd anrufen, und seine Grüße ausrichten. Dazu hörte ich ihn im Hintergrund lachen.
Ich werde Dein Lachen zu meinem Geburtstag sehr vermissen, mein lieber Bernd.
Deine Botschaft trage ich im Herzen: „Egal wie das Leben Dir spielt, es gibt immer Möglichkeiten sich gestaltend einzubringen. Ich kann um Hilfe bitten und ich kann lernen, Hilfe auch anzunehmen.“
Für Dich war das Leben ein Abenteuer und Du hast es genossen.
Am Ende dieses Beitrags habe ich ein kurzes Youtube-Video verlinkt. Es zeigt einen spastisch gelähmten Mann mit all seiner Lebensfreude, der mich sehr an Bernd erinnert.
Foto: Pixabay
Liebe Sabine,
Vielen Dank für diesen berührenden Artikel…. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen gelesen und mir dann das Video angesehen…..
Ich weine immer noch, jedoch ist es nicht wirklich Traurigkeit, als vielmehr Hochachtung vor diesen Menschen, welche sich nicht aufgeben, wie manch gesunder. Auch vor den Mitmenschen, welche dieses ermöglichen, ohne Be-wertung ????
Liebe Elke,
hab vielen Dank für Deine Rückmeldung.
Bernd hat mich/uns reich beschenkt und sein Lachen trage ich für immer im Herzen.
Jeder von uns hat etwas in sich, womit er andere berühren kann.
Du hast auch ein wunderbar ansteckendes Lachen.
Danke dafür.
Herzliche Grüße,
Sabine
Liebe Sabine,
auch ich schreibe diese Zeilen mit Tränen in den Augen. Nicht Jeder hat einen Menschen in seiner Familie oder seinem Freundeskreis, der einem so viel Glück und Liebe entgegen bringt, trotz oder gerade wegen seiner „Einschränkung“. Die meisten Menschen sind kerngesund und viele davon schränken sich selbst im Geiste ein.
Bernd war mit Sicherheit ein Engel auf Erden, der seine Aufgabe sehr zu Herzen genommen hat, seine Fröhlichkeit und sein Lachen dahin zu bringen und zu verbreiten, wo der Alltag trist und grau ist.
Nun ist Bernd wieder Zuhause, da, wo unsere Seelen wohnen, da, wo wir alle herkommen, beim Vater, Mutter und Geschwisterseelen. Schlafe schön, Bernd.
Liebe Grüße
Pili
Liebe Pili,
Danke für Deine sehr berührenden Zeilen. Da habe ich auch gerade Tränen in den Augen. Und Du hast so recht: Auch ich habe mich oft im Geiste eingeschränkt…
Ja – Bernd war ein Engel auf Erden und jetzt in diesem Moment spüre ich seine Leichtigkeit und kann sein Lachen hören.
Herzensgrüße zu Dir,
Sabine
Liebe Sabine, danke für diesen wunder-vollen Artikel und das Video! Wow! Ich bin tief berührt und habe Respekt vor allen Leuten!
Ich bin ehrlich, ich weiß nicht, ob ich das könnte!
Danke!
Herzensgruß Birgit
Liebe Birgit,
vielen Dank für Deinen wundervollen Kommentar.
Ich könnte es wahrscheinlich auch nicht so wie Bernd.
Jeder von uns steht an einer anderen Stelle im Leben und ist einmalig.
Und jeder hat auf seine Art und Weise sein „Päckchen“ zu tragen. Da lohnt es sich hinzuschauen: Welche Möglichkeiten können sich für mich ergeben.
Weg vom Mangeldenken hin zur Fülle.
Und das lebst Du uns wunderbar vor, mit Deinem Vertrauen in Deinen Weg.
Herzliche Grüße,
Sabine
Liebe Sabine,
von Herzen Dank fürs Teilen dieser Geschichte und dem Video.❤
Es ist Berührend und wunderschön, wie, Bernd trotz allem sein Leben geniesen, und auch so viel Freude an andere Menschen weiter geben konnte.
Ich habe vor einiger Zeit zu jemandem gesagt, wir können gerade von solchen Menschen sehr viel Wertvolles lernen.
Ich bin sicher, dort wo er jetzt ist erfreut er all unsere bereits Heimgegangenen genauso. Und eines, hoffentlich noch sehr fernen Tages, wird er Dich wieder mit seinem einzigartigen Lachen begrüßen. ❤❤❤????????????
Liebe Erika,
hab vielen Dank für Deinen liebevollen Kommentar.
Ich habe heute schon den ganzen Tag so ein Lachen im Ohr und das Gefühl, Bernd steht neben mir.
Als ich gestern an ihn dachte, spürte ich auf einmal so eine Leichtigkeit und der Blogartikel schrieb sich fast von selbst.
Herzensgrüße zu Dir,
Sabine
Das klingt wunderschön liebe Sabine. ❤
Ja das ist es auch liebe Erika,
ich spüre eine wunderbare, leichte und fröhliche Energie.